Ich muss euch ein Geständnis machen: Ich höre im Auto gern Disney-Songs – Rapunzel, Vaiana und natürlich beide Teile der Eiskönigin. Und ich singe dabei laut und falsch mit. Auf langen Fahrten hat man aber auch viel Zeit, nachzudenken. Zum Beispiel darüber, warum sich „Die Eiskönigin“ seit 2013 ungebrochener Beliebtheit erfreut. Oder darüber, warum sich die meisten Kinder nicht mit der Heldin Anna identifizieren, die Schnee und Eis, Monstern und bösen Prinzen trotzt, um ihre Schwester und das Königreich zu retten. Warum fühlen sie sich eher zu der einsamen, depressiven Elsa hingezogen?

Ein Teil der Faszination ist sicher in Elsas magischen Fähigkeiten, dem schönen Kleid und den grandiosen Songs begründet. Aber ich glaube, dass mehr dahintersteckt und „Die Eiskönigin“ uns Eltern einiges zu sagen hat. Denn es gibt viele Gründe für Kinder, sich manchmal wie Elsa zu fühlen.

Schauen wir uns die Geschichte einmal genau an: Seit sie als Kind bei einem Unfall ihre Schwester Anna schwer verletzt hat, lebt Elsa in Angst und – auch auf Wunsch ihrer besorgten Eltern – in Isolation. Ihre Gabe, Dinge aus Eis und Schnee zu erschaffen, ist für Elsa ein Fluch. Statt zu lernen, damit umzugehen, unterdrückt sie, was in ihr steckt und zieht sich immer mehr in sich selbst zurück. Erst am Tag ihrer Krönung verlässt Elsa nach vielen Jahren zum ersten Mal ihr Zimmer – alles andere als freiwillig.

„Es ist soweit.
Lass sie nicht sehen - wie du bist,

nein, es darf heut' nicht geschehen!
(…) ein Fehler nur und alles ist vorbei“,

singt sie vor der Zeremonie.

 

Wie von Elsa befürchtet, wird der Tag ein Desaster. Sie flieht in die Berge und erschafft sich ein „Königreich der Einsamkeit“. Sie kann den Sturm in sich nicht länger unterdrücken, wie es im Titelsong „Lass jetzt los“ heißt, wobei die oskargekrönte englische Originalversion “Let it go“ in den Formulierungen noch eindeutiger ist. Elsa will sich nicht mehr von ihren Ängsten kontrollieren lassen und sich nicht mehr verstecken müssen. All die Jahre sollte sie die brave Prinzessin sein, wusste jedoch immer, dass sie die Erwartungen der anderen nicht erfüllen kann, weil ein scheinbarer Makel auf ihr lastet: „Du darfst nichts fühl'n, zeig' ihnen nicht dein wahres Ich!“.

 

Nun will Elsa endlich frei sein, ihre Kräfte kennenlernen und sie nutzen, ohne immer Rücksicht auf andere nehmen zu müssen. „That perfect Girl is gone“, singt sie. Nur durch den kompletten Bruch mit der Vergangenheit und allem Vertrauten kann sie endlich sie selbst werden. Erst, als es ihr egal ist, was die anderen denken, kann sie mit ihrer Gabe Wunderbares schaffen.

Und genau hier sollten wir Eltern sehr hellhörig werden. Setzen nicht auch wir unsere Kinder manchmal bewusst oder unbewusst unter Druck? Würden sie aus Angst um ihre Sicherheit am liebsten einsperren? Erwarten nicht auch wir gelegentlich, dass sich unsere Kinder sind wie alle anderen, gute Noten schreiben, sich im Sportverein engagieren und möglichst selten widersprechen? Erwartet unser Bildungssystem nicht ebenfalls, dass unsere Kinder sich anpassen? Wo wird das hinführen? Wenn wir uns Elsa ansehen, wissen wir es.

 

Es ist nicht der Ritter auf dem weißen Pferd, sondern die Liebe ihrer Schwester Anna, die Elsa schließlich rettet. Und es ist die Liebe von uns Eltern, die unsere Kinder beschützt – unsere uneingeschränkte, bedingungslose Liebe. Eine Liebe, die Mut macht, Fehler zu begehen und aus ihnen zu lernen. Eine Liebe, die stark macht, zu zeigen, wer man ist und was in einem steckt. Eine Liebe, die sagt: Du bist gut so, wie du bist. Du musst nicht perfekt sein. Ich hab dich lieb, einfach so.

 

Ich sage nicht, dass Kinder völlig ohne Grenzen und Regeln aufwachsen sollen. Eltern dürfen auch mal schimpfen. Aber auf das richtige Maß und den Ton kommt es an – zuhause und in der Schule. Und manchmal müssen wir uns auch schützend vor unsere Kinder stellen, wenn andere die Grenzen unserer Kinder überschreiten oder sie unter Druck setzen. 

Natürlich müssen wir unsere Kinder zur Rücksichtnahme und Höflichkeit erziehen – vor allem, indem wir Vorbild sind. Wir sollten sie motivieren, ihr Potenzial zu nutzen, aber ohne Leistungsdruck. Wir müssen Ihnen Aufmerksamkeit schenken – und ihnen Zeit und Raum geben, einfach Kind zu sein. Wir sollten ihnen vertrauen, ihnen Verantwortung übertragen, sie ihre eigenen Wege gehen lassen, wenn wir ihnen das nötige Rüstzeug vermittelt haben, auch wenn es schwerfällt. Insofern ist „Lass jetzt los“ auch ein Appell an die Eltern.

 

Lassen wir unsere Kinder auf Bäume klettern, sich schmutzig machen und die Hosen zerreißen, auch mal Fünfen in Englisch schreiben, am Esstisch kippeln und nachmittags einfach draußen spielen, statt jeden Nachmittag mit Vereinen und Fördermaßnahmen zu verplanen. Lassen wir sie abstrakte Kunstwerke malen und aus Müll Neues basteln. Ermutigen wir sie, Nein zu sagen – auch zu uns. Zeigen wir ihnen, wie man sicher Fahrrad fährt auf der Straße. Wie man kocht und bäckt oder näht. Vermitteln wir ihnen Freude am Lesen, Experimentieren und an neuem Wissen. Zeigen wir ihnen, warum die Natur kostbar und schützenswert ist. Zeigen wir ihnen, was Toleranz und Fairness bedeutet, indem wir es vorleben. Und lassen wir sie Geschichte verstehen und erleben, damit sie sie wirklich begreifen.

Auch für Eltern mit Teenagern gilt: Wenn wir mit unerschütterlicher Liebe und Zuversicht – und ohne überzogene Erwartungen – einfach da sind, werden unsere Kinder den Weg hinunter von ihrem einsamen Berg hoffentlich selbst finden.

Kindern ist die familiäre Liebe viel vertrauter als die romantische – und im Gegensatz zu den ersten Schwärmereien ist die Liebe der Familie tatsächlich meist für immer. Vielleicht ist es auch dieses ungewöhnliche Happy End, das Kindern und Eltern so gut an der „Eiskönigin“ gefällt.

Jetzt bin ich neugierig auf eure Meinung dazu. Vielleicht schaut ihr euch den Film einfach mal wieder an – zum runterkühlen an heißen Tagen und zum inspirieren lassen. Und wenn ihr eine ganz andere Botschaft aus "Völlig unverfroren" mitnehmt, lasst es mich wissen, ich bin gespannt!